Mittwoch, 16. November 2011

Shadowrun: Resident Hill, Teil III

Aus dem Tagebuch der Runnerin Blacky, Schamanin, 21.03.2072
18:25
Wir erreichen Ronin. Wie die Beschreibung in der Matrix hat vermuten lassen, gibt es hier nichts Spannendes zu sehen. Es sei denn, man ist ein Großstädter auf der Suche nach Abgeschiedenheit. Oder ein Runner.

Die Luft ist klar und von dieser ganz besonderen Ruhe erfüllt, die es nur in unbedarften Kleinsiedlungen gibt. Nicht ganz ein weltfremder Ort, in dem es nur weiße Gartenzäune gibt, Dorfpastor und Bürgermeister die unwidersprochenen Führungspersönlichkeiten sind, doch in dem Jeder Jeden kennt und Auswärtige wie wir sofort auffallen. Es sei denn, sie sind auf der Suche nach guten Angelgründen, für die der Big Salmon Lake, besonders im weiteren Umkreis von Ronin, berühmt ist. Diese, leider sehr verbreitete, Spezies Großstädter ist man hier gewöhnt und belächelt sie gerne ob ihres übertriebenen Enthusiasmus, eingebildeten Weltmenschentums - und der oft den Angelversuchen unaus- weichlich folgenden enttäuschenden Ernüchterung. 

Genau diesen Menschentypus wählen wir als unsere Tarngeschichte und sind somit für die Ansässigen, quasi in unserer Offensichtlichkeit, unsichtbar. 

Im ausgewiesenen Anglershop dreschen wir fleißig typische Anglerfloskeln (in der Matrix findet man wirklich ALLES…) und erkundigen uns nach dem Weg zum See, ob die Fische gerade besonders gut beißen und ob von dem naheliegenden Militärgebiet irgendetwas zu befürchten sei. 
„Ach wa`…“, klärt uns der ebenso freundliche wie faltenreiche Ladenbesitzer mit den strahlend grauen Augen gelassen. Von „de` Leut` da hinnen“, er macht eine vage, ausholende Geste, habe man noch nie mehr zu Gesicht bekommen, als die ominöse Markierung auf Landkarten. Auf unsere Frage, ob er einen guten Ort kenne, an dem wir nicht nur unsere Fahrzeuge unterbringen, sondern uns auch auf dem kürzesten Weg zum See aufmachen können, beschreibt er uns die Route zu einem knapp außerhalb des Dorfs gelegenen Sägewerk.
„Könnt`a gar nich` verfehl`n.“ Der Parkplatz dort sei nicht nur riesig und für die Öffentlichkeit zugänglich, sondern führe uns auch direkt zu einem Waldpfad, der uns ohne Umschweife zum See führen würde.
„Da kommt ihr aber nur zu Fuß lang…“, schließt er gedehnt und sichtlich amüsiert. Auch wenn wir nicht wirklich verwöhnte Großstadtmenschen sind, die vor einem langen Fußmarsch zurückschrecken, sind wir dennoch ernüchtert, wie lange uns die Lauferei in unserem engen Zeitplan aufhalten wird.
Seine, deutlich belustigen, Worte „Sin` nur um die 5 Stund`n, is` nich` weit..,“ müssen uns den verhätschelten Jüngelchen, die hier sonst auf der Suche nach dem Kitzel der Wildnis umherstrolchen, umso ähnlicher gemacht haben. 

18:40
Wir parken auf dem Parkplatz des Sägewerks. Die Arbeiter ignorieren uns, oder nicken kurz zum Gruß, ohne uns wirklich wahrzunehmen. Großstadtangler, oder solche, die sich dafür halten, scheinen auch hier ein vertrauter Anblick.
Zur Waldseite lädt Screw seine beiden Drohnen aus und auch wir anderen rüsten uns für den Fußmarsch und unseren Auftrag. Wir betreten den Waldweg zum See.

20:00
Die Sonne geht unter und wir legen eine kurze Orientierungspause ein. Ich nutze die Gelegenheit, mich hinter nahestehenden Baumriesen kurz außer Sichtweite zu begeben. Auch wenn mir die meisten der Gruppe wohlvertraut, ja, schon fast als Freunde zu bezeichnen, sind - diesem neuen, Sam, muss man ja nicht alles auf die Nase binden. Wer kann schon wissen, welche Leichen der undurchsichtige Kerl in seinem Keller hat…

In meiner wilden Zeit, frisch nach dem Erwachen, war ich nicht sicher, was ich von all den Gerüchten über Geister und Magie, den ganzen Theorien, Praktiken und verschiedenen Pfaden halten sollte. Ich hatte mit mir und dem Überleben schon genug zu tun, als mich um dieses Blabla zu scheren. Ob Geister nun psychische Projektionen des metamenschlichen Unterbewusstseins sind, ober bereits zuvor in ihrer heimischen Metaebene als eigenständige Entitäten existierten - praktisch gesehen war das irrelevant.

Das meiste aus der Zeit liegt für mich wie hinter einem dichten Nebel, kaum erinnerlich. Was ich weiß ist, dass ich mir zu dieser Zeit der Stimme in meinem Inneren bewusst wurde. Wobei Stimme ein denkbar schlechter Begriff ist, denn sie spricht nicht, nicht direkt. Es ist, als wäre ich ein bisher nur halb befülltes Gefäß gewesen, das nun aufgegossen war. Etwas war dazu gekommen, erfüllte mich, machte mich vollständig und umhüllte mich mit einer vertrauten Präsenz. In meinen Träumen führte ich lange Gespräche, ohne, dass ich nach dem Aufwachen benennen könnte, um was es ging. 

Während meiner Schamanenausbildung, an der Hunter regen Anteil hatte, lernte ich, das  Geister in einer anderen Domäne leben, einer Art Parallelsphäre, die uns umgibt, aber außer für Erwachte, also magisch Aktive, nicht sichtbar ist. Das, was die Öffentlichkeit von Geistern, Magiern, Beschwörungen und alldem hält, ist dabei weit abenteuerlicher und verrückter, als sie schlichte Realität. 

Ich greife in mich und öffne mich der Domäne der Geister, ringend, einen mittelstarken Geist herbei zu bitten, der, wenn es glückt, sich bereithalten wird, sich auf meinen direkten Ruf hin auf dieser Existenzebene als Tiergeist in Form meines Seelenverwandten zu materialisieren und uns bei unserem Auftrag zu unterstützen. Ich weiß, dass die Erscheinung des Geistes von meiner Einstellung und Erwartungshaltung, meinem kulturellen Hintergrund bestimmt wird. Trotzdem hat die Materialisierung meines des wölfischen Seelenverwandten immer wieder etwas Beruhigendes.

20:10
Wir gehen weiter, während die Dämmerung den Wald nach und nach in die verschiedensten Nuancen von Grau bis Schwarz taucht. Eine Sichtbehinderung erleide ich dadurch nicht, bin ich doch mit der den Elfen eigenen natürlichen Restlichtverstärkung gesegnet. Einer der Vorteile, die dieser neue Metamenschentyp hat, denke ich nicht ohne Ironie. Wenn man bedenkt, welch hohen Zoll an Blut, Stigmatisierung und Anfeindung die ersten Opfer der Ungeklärten Genetischen Expression zu erdulden hatten – kein Wunder, wenn plötzlich nicht nur die Welt um einen herum, sondern die eigenen Gene verrückt spielen.
UGE war wohl die aufreibendste Unruhequelle, die die sechste Welt seit dem Jahr des Chaos 2011 erschüttert hat. Die Rückkehr der Magie, Manastürme, Naturkatastrophen, die Macht gewinnenden und Staaten aushebelnden Megakonzerne, das todbringende Virus VITAS und die Manifestation der machtvollen Drachen waren für uns heute zwar Alltagsgegenstände oder zumindest Allgemeinwissen, müssen aber die Weltanschauung eines jeden in seinen Grundfesten erschüttert haben.

23:48
Während ich meinen Gedanken nachhänge, kommt das Ferienhaus an der nördlichen Seite des Sees endlich in Sichtweite. Jegliche Spur von Gelassenheit weicht Wachsamkeit und Präzision. Wir rücken Meter um Meter vor, die Kämpfer sichernd, die Gegend mit allen körperlichen und technischen Sinnen nach Auffälligkeiten oder Bedrohung erkundend. Screws Flugdrohne liefert uns Bilder aus der Vogelperspektive.

Ich spitze mein empfindliches Gehör. Nichts. Außer unseren und den typischen Waldgeräuschen, die mir durch meine Streifzüge durch die östlich vom Seattler Komplex gelegenen Waldgebiete wohlvertraut sind, ist nichts zu hören.

Ghost und ich überwachen regelmäßig die Astralebene, schauen nach Signaturen, Leuchtfeuern, die auf magisch Aktive oder andere Gefahren hindeuten. Oder nach dem einfachen Glühen, das ein jedes Lebewesen ausstrahlt. Nichts. Alles unscheinbar, ungefährlich, unaufdringlich. Unheimlich ruhig. 

Als wir uns auf 50 Meter dem Gebäude nähern, geschient endlich etwas. Es ist beinahe wie eine Erlösung, nachdem uns die Anspannung wie ein undeutbares Nackenkribbeln, den typischen sogenannten sechsten Sinn, ohne den man in den Schatten nicht lange überlebt, auf die Folter spannte. Doch die Veränderung verbessert unsere Lage nicht, im Gegenteil. Das TacNet fällt zusehends aus, und auch sonst scheint alles, was mit technischen oder magischen Mitteln zu erkennen ist, wie hinter einem undurchdringlichen Schleier verborgen. Allein unsere Augen scheinen zuverlässig zu funktionieren. Ein kalter Schauer rinnt mir über die Schultern, denn, bei aller Professionalität, so etwas habe ich noch nicht erlebt. Auch meine Kollegen zeigen einen Hauch von Unsicherheit.

Wir nähern uns weiter, Schritt um Schritt, wachen, lauschen, gehen.

Ein jäh einsetzendes, trotz seiner geringen Lautstärke über die Lichtung hallendes Pochen lässt uns den Schreck in die Glieder fahren. Es ist gleichmäßig und dumpf. Wie Holz auf Holz. Gleichmäßig und unnatürlich. In seiner Einfachheit irgendwie bedrohlich.

Nach dem ersten Schrecken und als sich außer dem gleichbleibenden Geräusch nichts rührt, zu sehen oder zu hören ist, setzen wir unseren Weg umso vorsichtiger fort.

Wir erreichen das Holzhaus, dass von einer Veranda umrundet wird. Unsere Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Das Holz des Hauses ist dunkel, verwittert und sehr alt. Außer dem Erdgeschoss scheint es außerdem ein Obergeschoss und einen Keller zu geben, auf den die Notklappe an der Hauswand zu unserer rechten Seite hinweist. 

Alles ist dunkel, kein Licht brennt. 

Wir nähern uns Schritt um Schritt, wachsam nach jeglichen Veränderungen, verräterischen Geräuschen oder astralen Auffälligkeiten forschend.

Wie schauen wachsam durch die uns zugewandten Fester ins Wohnzimmer, in dem wir außer den gemauerten Kamin wenig erkennen können. Alles scheint verlassen und verfallen. 

Es scheint, dass wir von außen nicht mehr erfahren können und beschließen, trotz des nervenzehrenden, regelmäßigen Holzpochens, das Haus zu betreten. In dem Augenblick, als Sam als erster seinen Fuß auf das morsche Holz der Veranda setzt, weicht das unheimliche Geräusch einer ohrenbetäubenden Stille.

11 Kommentare:

  1. Deutlich besser als die Teile davor. Das kann an den Ereignissen liegen, oder aber auch an der vielfältigen Ausdrucksweise.
    Die Runner-Begriffe sind schön eingebunden und angenehm kurz erklärt. Das gefällt sehr.
    Insgesamt gefällt es sehr. Tolle Arbeit.

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  2. Kann mich da meinen Vorrednern nur anschließend. So toll beschrieben, die Gegend, die Gefühle, die Gedanken. Und die Spannung wächst und steht.....wo bleibt der nächste Teil?! Ich glaub du mußt Nachtschicht einlegen. :)

    Liebe Grüße
    Nalbis

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  3. @ Spankey
    Freut mich!

    @ Imperator
    Davon kann ich nicth genug bekommen ;)

    @ Held
    Wenn der Spielleiter es gruselig findet, mache ich mir Sorgen ^^

    @ Jay
    Dankeschön, dein Lob freut mich ganz besonders.

    @ Nalbis
    Lach, danke, aber der nächste braucht noch. Ich will ja weder mich noch meine Leser überfordern ;)

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  4. Uff. Das ist einer der Beiträge, bei denen ich mich nicht traue, meinen unqualifizierten Senf dazuzugeben. Nur so viel: Ich muss mir morgen mal in Ruhe Teil 1+2 durchlesen. Und ich bin jetzt schon gespannt auf die Fortsetzung. ;)

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  5. Wirklich klasse! Da werden einige Fragen beantwortet und wieder einige neue entstehen... ^^
    Freu mich auf die Fortsetzung!

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  6. @ Anna
    Nur keine Scheu =)
    Ich hoffe, Teil 1+2 haben/werden dir ebenso gefallen.

    @ Mr.Elch
    Danke schön, sie kommt bestimmt!

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  7. @ Citara: Jep, das haben sie.Das war meine Feierabendlektüre. ;)

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  8. Schn, dass die langen Texte, bzw. eigentlich ist es ja nur ein ganz langer, es zur Feierabendlekrüre geschafft und DANN auch noch gefallen haben ;)

    Aber auch wenn wir Feierabendendorfine wirken, auch für Kritik bin ich zu haben ;)

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